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Was macht einen guten Fußballer aus, Intelligenz oder Intuition? Oliver Höner hat die Entscheidungsmomente auf dem Rasen untersucht. Das Ergebnis: Im Mittelfeld hilft Nachdenken, im Sturm ist es meist hinderlich.

Kurz vor neun. Als der Juniorprofessor in seiner Mainzer Wohnung den Fernseher einschaltet, wird gerade die Hymne für die australischen Gäste gespielt. Er stellt Bier auf den Tisch und Limo (»Mögen Sie lieber Alsterwasser?«). Dann ruckelt er das Gerät ein paar Winkelgrade quer, damit wir in seiner Kleinstklause beide einen guten Blick auf den Bildschirm haben. Ich rechts, er links seines Hochbettpfostens. Nun ertönt die deutsche Hymne. »Den würde ich nicht hinten links aufstellen«, grummelt der Forscher, als die Kamera am Gesicht von Hitzlsperger vorbeifährt. Der habe als Verteidiger gegen die Nordiren und die Russen alt ausgesehen. Der Forscher lässt sich in den Stoffsessel fallen, greift zum Kaltgetränk. In wenigen Minuten beginnt die Arbeit.

Oliver Höner analysiert Fußball. Nicht wie Günter Netzer oder Waldemar Hartmann, sondern wissenschaftlich. Der Deutsche Sportbund hat ihn kürzlich für seine Dissertation Entscheidungshandeln im Sportspiel Fußball – Analyse im Lichte der Rubikontheorie ausgezeichnet. Darin hat der Sportwissenschaftler, Mathematiker und Pädagoge ergründet, wie lange Fußballer nachdenken. Genauer gesagt: Er hat gemessen, bis zu welchem Zeitpunkt und wie intensiv vor einer spielerischen Tat ein Fußballer seine Handlungsmöglichkeiten (Abspiel oder Alleingang) abzuwägen pflegt. Der Spielmacher, so ist aus der Doktorarbeit zu erfahren, grübelt vergleichsweise lange über den Alternativen, die sich bieten. Im Gegensatz dazu schaltet der Stürmer frühzeitig seinen Kopf aus; offensichtlich bringt ihm das im gegnerischen Strafraum Vorteile. Bedenkenträger schießen seltener Tore.

Der Start der Deutschen in den Konföderationen-Cup ermöglicht uns, die wissenschaftlichen Befunde umgehend und differenziert zu prüfen. Denn der 32Jährige, einst deutscher Meister mit der U17-Westfalenauswahl, Junior im Mittelfeld bei Arminia Bielefeld, Oberligaspieler und bis 2004 Verbandsligatrainer mit DFB-A-Lizenz beim SC Herford, will eines gerade nicht behauptet haben: dass der Dumme auf dem Platz grundsätzlich der Bessere sei. »Unbekümmertheit« gefällt ihm als Qualitätskriterium für einen Vollstrecker besser – siehe Podolski! »Der redet direkt und philosophiert nicht herum.« Oder Schweinsteiger! Außerdem räumt Höner ein, dass ein schlichtes Gemüt auch einen Spielmacher nicht unbedingt hindern müsse: »Gute Entscheidungen im Fußball haben nichts mit Intelligenz zu tun.«

Endlich Anpfiff. Sofort fahndet der Wissenschaftler nach den seltenen Momenten, die für seine Forschung wichtig sind. Sie dauern nur Sekunden. In diesen Szenen kommen nicht primär des Fußballers technische Fähigkeiten, Sprintstärke oder Ausdauer zum Tragen. Vielmehr kann er mit kognitivem Geschick aufwarten. Oder mit Ungeschick. Je nachdem. Es sind Momente voller Psychologie, die Spiele entscheiden. Wer zu lange grübelt, übersieht die Gelegenheit zum Traumpass Der Juniorprofessor kramt in seinem Gedächtnis nach einer Szene, die typisch zeigt, dass Denken nicht immer hilft. »Ein Stürmer zieht allein aufs Tor«, sagt er, zieht den Laptop aus seiner Umhängetasche und wirft ihn an, da im TV weder die Deutschen noch die Australier Anstalten machen, uns mit passender Anschauung einen Gefallen zu tun. Auf dem Rechner hat er zahlreiche Szenen aus WM-Partien geladen, die belegen, dass sogar im Spitzenfußball »Spieler oft wie gelähmt so lange über mögliche Anspielalternativen nachdenken, dass sie nicht mehr zur Handlung kommen«.

Höner öffnet eine Videodatei: Der Kroate Vlaovic 1998 im WM-Halbfinale, grüblerisch zieht er allein gegen Torhüter Barthez – schon luchst ihm der französische Verteidiger Thuram den Ball ab. Mit ganzem Eifer den Torschuss zu suchen ist zwar die Kernkompetenz von Stürmern. Aber gerade deshalb handeln sie sich oft den Vorwurf ein, eigensinnig zu agieren: volle Konzentration auf den Alleingang – daneben steht unbeachtet der in Stellung gelaufene Nebenmann einschussbereit vor dem gegnerischen Tor. 

»Denken lähmt, und Handeln macht gewissenlos«, versucht Höner dieses Entscheidungsdilemma auf den Punkt zu bringen, in das geniale Berufstätige wie Podolski, Rooney oder Chapuisat Spieltag für Spieltag geraten können. Bekannt ist es auch als Alltagsphänomen. Die Kognitionspsychologie spricht vom Abschirmungs-Unterbrechungs-Dilemma«. Unter dem Druck, uns schnell entscheiden zu müssen, sinkt die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen. Wir schirmen uns ab.

»Veron, WM 1998«, sagt Höner und wühlt in seinem Computer nach der Szene im Spiel Argentinien gegen Holland, in der Veron es unterlässt, den frei stehenden Batistuta anzuspielen. In seinen Vorlesungen zeigt Höner die Sequenz gerne, wenn er demonstrieren will, dass auch Ausnahmekönner ab und an zu früh mit Denken aufhören. Doch plötzlich erklärt die Gegenwart seine Theorie schneller als die Videokonserve. Der Herthaner Arne Friedrich liefert Anschauungsmaterial live am Fernsehschirm.

Er schießt aus fast aussichtsloser Position. Abspielen nach rechts oder eine Flanke wäre vielversprechender gewesen. Doch der Zufall sorgt dafür, dass in dieser 18. Minute dem ins Nirgendwo gedroschenen Ball die Fußspitze des Noch-Stuttgarters Kevin Kuranyi in die Quere kommt. Abgelenkt fliegt der Ball ins Netz. 1:0. Der professorale Jubel – er ertönt auffällig matt. »Hmmh«, murmelt stattdessen Höner analytisch. »Wegen des Tors denkt der Laie nun, der Friedrich hätte richtig gehandelt.«

Die Sportwissenschaft sieht es differenzierter. Es gilt nun, an diesem Tor die vier Analyseschritte der Rubikontheorie sachkundig zu erörtern. In der prädezisionalen Phase wägt der Spieler ab: Flanke oder Schuss, Pass oder Alleingang? Die Phase endet, sobald der Spieler »den Rubikon« überschreitet und »eine konkrete Handlungsabsicht (Zielintention) fasst«.

Die ARD hilft uns ein wenig mit einer Zeitlupe. »Sehen Sie, der Friedrich entschließt sich sehr früh, zu schießen.« Der Wissenschaftler Höner hätte ihm zu mehr Umsicht bei der »kognitiven Absichtsbildung« und folglich einem späteren Eintritt in die zweite, die präaktionale Phase geraten. »Er hat den Rubikon überschritten und seine ganze Wahrnehmung deshalb zu früh auf den eigentlichen Torschuss fokussiert.« Tunnelblick! Auch Schalke-Stürmer Asamoah neigt bekanntermaßen dazu.

In der Wiederholung erschließt sich auch dem Nichtprofi, wie stupend der Berliner Nationalspieler in dieser Situation agiert hat. Die 1:0-Führung der Deutschen wird zum Rätsel, sobald man in Betracht zieht, wie sehr Friedrich auch den dritten Abschnitt seiner Handlung, die aktionale Phase, vergurkt hat. Die Zeitlupe enthüllt es. Der Spieler tritt in dermaßen verunglückter Weise gegen den Kunststoffball, dass dieser keineswegs in Richtung Tor fliegt.

Eine solche Fehlleistung zeitigt im Normalfall Konsequenzen in der postaktionalen Phase. Das ist in diesem Zusammenhang die vierte und letzte Phase: In ihr bewertet der Spieler nach Aktionsabschluss seinen Torschuss »hinsichtlich der motorischen Ausführung sowie der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung«. Der Befund dieser Bewertung: eindeutig negativ. »Der wollte bestimmt nicht Kuranyi anspielen«, sagt Höner. Doch auf dem Spielfeld macht keiner Anstalten zu einer gestrengen Reflexion. Das ganze deutsche Rudel bejubelt kritiklos den Glückstreffer. »Es gibt eben Zufallsprozesse, die nicht von Erklärungsmerkmalen abhängen«, löst Höner den scheinbaren Widerspruch auf. Die Wissenschaft produziere oft isolierte Erkenntnisse. Was nicht heißt, dass sich dieses unerklärliche deutsche 1:0 ganz der Analyse entziehen würde. Höner versucht es mit fußballspezifischer Trinität im Stakkato: »Entscheidung falsch, Schuss schlecht, Erfolg trotzdem.«

In der Untersuchung für seine Doktorarbeit, die im Sommer veröffentlicht wird, hat der Forscher seine Testkicker mit identischen Situationen konfrontiert. Als ballführende Akteure vor der Großleinwand sahen sie in Videosequenzen Mitspieler und Verteidiger, die sich ihnen in den Weg stellten. Höner erfasste die Blicksprünge während dieser Situation und ermittelte damit »den relativen Anteil an Abwägesakkaden« vor der Entscheidung, allein durchzubrechen oder den Ball einem Mitspieler zuzupassen.

Spätestens 600 Millisekunden vor dem Entscheid hörte jeder Kicker mit der ausgiebigen Abwägerei auf, sackte »die Weite der Informationsaufnahmebereitschaft rapide ab«. Die Untersuchung brachte zutage: Es überlegt nicht nur der Spielmacher länger als der Torjäger, sondern auch der Erfahrene länger als der Neuling, der Innenverteidiger ausgiebiger als der Außenverteidiger. Und in der Kreisklasse wird das Denkorgan deutlich früher ausgeschaltet als etwa in der Bundesliga. Höners Befund enthält gar einen konkreten Ratschlag für die Nachwuchsförderung: Wer vor dem sechsten Lebensjahr mit Fußball anfängt, besitzt Vorteile im Entscheidungshandeln.

Minuten nach dem Ausgleich – ein Australier tunnelte beim Freistoß die deutsche Mauer – die erneute Führung durch Mertesacker. Der fackelte nicht lange, zog volley ab. »Ein Riesentalent«, sagt Höner, der langsam warm wird. Er nimmt erneut den Weg zum Kühlschrank in Angriff, der zum Glück in einer 25-Quadratmeter-Wohnung nicht weit ist. Die Hälfte der Woche verbringt Höner mit Familie in Ostwestfalen, drei Nächte wohnt er hier. Unten im Eingang 200 Briefkästen; in den Miniwohnungen vor allem Studenten. Vielleicht werden aus den vier Jahren in Mainz acht, sollte die Juniorprofessur verlängert werden. In der Pause ist genug Zeit für Ansichten aus dem Laptop, die belegen, wie schwer sich Fußballprofis damit tun, sich umzuentscheiden, wenn der Rubikon überschritten ist. »Zidane ist einer, der im letzten Moment noch abspielen kann.« Und von den Deutschen? »Vielleicht Scholl«, sagt Höner, »und Ballack; Ballack halte ich für den komplettesten Spieler der Welt.«

Podolski denkt beim Vollstrecken keine Millisekunde nach
Den Nachweis bleibt der Mannschaftskapitän allerdings 45 Minuten lang schuldig. Das ändert sich nach der Pause. Auch über Friedrich kann Höner sich freuen, weil der nun »eine Superpartie« liefert. Dann geschieht gar noch eine Art Wunder. Der junge Professor ergötzt sich am 4:2. An einer perfekten Sequenz, einem perfekten Tor – es liefert ein Indiz, dass er mit seiner Wertschätzung nicht falsch liegt. Denn in der 88. Minute spielt sich Ballack ins Anschauungsunterrichtsmaterial der Universität Mainz. Mit einem Absatztrick legt ihm Asamoah auf, Ballack sprintet in den Sechzehner. Dann – in der Zeitlupe deutlich zu sehen – schaut er nach rechts (»Abwägeprozess in der prädezisionalen Phase!«).

Er erblickt Podolski, läuft drei präaktionale Schritte weiter, bis der Zeitpunkt, um in den Rücken der Abwehr zu spielen, ideal ist. Aktionale Phase mit Grätsche und im Fallen Pass zum Kameraden. Podolski natürlich denkt beim Vollstrecken keine Millisekunde nach. Das ergibt unter dem Strich ein perfektes postaktionales Verdikt: »Gut gemeint, gut gemacht, richtige Entscheidung – Weltklasse.« Ein anderer als Ballack, sagt Höner, »hätte einfach von links auf die Bude geknallt«. Seine Studenten aber werden auch das Dusseltor von Friedrich und Kuranyi zu sehen bekommen. Es hat Höner nachdenklich gestimmt. Plötzlich ist er ins Grübeln geraten. Ob es nicht doch ein Verursachungsmerkmal für den Zufall gibt? »Kein Tor ist nur Zufall«, in Höners Gesicht blitzt ein Hoffnungsschimmer auf. Die wissenschaftliche Erklärung naht. »Wer mehr torgefährliche Szenen erzeugt«, orakelt der Forscher, »produziert mehr Möglichkeiten für Zufall.« Der lässt sich zwar nicht erzwingen, aber seine Brutstätte erzeugen: »Darauf basiert das Prinzip Brechstange.«
Am Ende fällt noch ein Tor, für das Olli Kahn nichts kann, das ihn aber ärgert. 4:3.

Der Mensch…
Oliver Höner ist Juniorprofessor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Mainz. Früher selbst als Spieler aktiv, analysiert er Entscheidungsverhalten im Fußball. Mit Neuroinformatikern der Uni Bielefeld arbeitet er an neuen Sportarten für Sehbehinderte. »Blindminton« etwa ist mit Badminton vergleichbar. Die Spieler schlagen mit realen Schlägern gegen einen virtuellen Ball und nutzen akustische Signale zur Orientierung. 

… und seine Idee
Schießt ein Fußballer erfolglos aufs Tor, obwohl ein Mitspieler besser positioniert gewesen wäre, wird ihm oft Eigensinn vorgeworfen – zu Unrecht. Sein Verhalten hat komplexe kognitionspsychologische Grundlagen. Die Analytiker kennen zwei Sorten von Torerfolgen. Viele Tore können sie erklären, indem sie das Entscheidungsverhalten des Spielers beobachten. So wird offenbar, warum der Ball ins Netz ging. Die anderen Treffer sind einfach Zufälle.


Quelle:
DIE ZEIT 23.06.2005 Nr.26
Von Urs Willmann